von Karl Wilfart, Egerer Zeitung 14/15 1956
Es gibt Menschen, die zuweilen, wenn sie auf einem Hügel stehen und in die Ferne schauen, eine seltsame Sehnsucht verspüren. Gelangen sie aber später an den Ort ihrer Sehnsucht, dann tut sich vor ihnen eine andere Ferne auf und ihr Sehnen bleibt ungestillt.
Als ich noch ein Bub von etwa 10 Jahren war, erging es mir ähnlich. Wenn ich auf der Bismarckhöhe stand oder sonst wo auf einem der unsere Stadt umkränzenden Hügel, und in der Ferne die blauen Höhenzüge des Kaiserwaldes erblickte, konnte es sein, daß mir die Sehnsucht nach der weiten Ferne schier die Tränen' in die Augen trieb. Und als ich später das Glück hatte, meinen Vater auf einer seiner häufigen Wanderungen zu begleiten und am Gipfel des Judenhau, stand, da zeigten sich mir qm Horizont die bläulichen Rücken des Böhmerwaldes und ich konnte meine sehnsüchtigen Augen nicht losreißen von dem Bilde.
Die Sehnsucht nach den fernen blauen Waldbergn war es, die mich in jungen Jahren immer wieder in die stillen Wälder und auf die lichten Höhen des Kaiserwaldes trieb und weil mein Verlangen ungesättigt blieb, wiederholte ich meine Wanderungen viele, viele Male. So lernte ich den Kaiserwald wirklich kennen und lieben.
Auf diesen Wanderungen ging ich häufig allein. Das hatte verschiedene Vorteile. Als Alleingeher vermied ich jeden unnützen Lärm und konnte dadurch die Natur besser beobachten; niemand lenkte mich in meinen Betrachtungen ab. Und vor lauter Spekulieren und Beobachten vergaß, ich ganz auf die Langeweile. Eines aber hatte ich trotz meiner Jugend bald heraus: mit dem Staunen und Bewundern der Natur ist es nicht allein getan, man mußte schon etwas tiefer blicken können. Neben die Naturliebe sollte das Verstehen treten, neben das Bewundern, das Deuten.
Meine häufigsten Wanderungen führten mich in den westlichen Teil des Kaiserwaldes, weil ich diesen am leichtesten erreichen konnte. Allein in diesem Teil gibt es eine Vielfalt von Wanderwegen und Touren und es ist nicht möglich, sie im Rahmen eines kleinen Aufsatzes alle aufzuzählen.. Wenn ich im nachfolgenden einige Wege besonders hervorhebe, dann nicht, weil ich sie für schöner als die anderen halte, sondern weil sie vielen Egerern bekannt sein werden.
Zuerst wäre einiges über die Anmarschwege von Eger aus zu sagen. Wer auf die Bahn verzichtete und dem Kaiserwald zu Fuß näher rückte, dem bot er sich in besonders schöner Weise dar. So marschierte ich an manchem .schönen Tag auf der Straße nach Treunitz hinaus. Freilich, der Weg war ein bißchen, staubig, aber Autos hatte ich nicht zu fürchten, unsere Bauern fuhren noch mit dem Steyrerwagerl. Auf der Höhe, an der Südseite des Flugplatzes, blickten sie mir bereits freundlich entgegen, die breiten Waldbuckel aus Granit. Die Schneisen am Judenhau waren schon deutlich auszumachen. Wartet nur, sagte ich mir, in fünf Stunden stehe ich auf eurem Rücken und lasse mir das gelbe Waldgras durch die Finger gleiten.
Hinter Treunitz nahm ich den Weg hinüber nach Gaßnitz und bog nach den ersten Häusern links ab auf das Sträßchen, welches über Grün nach Teschau führte. Immer näher kam ich dem Kaiserwald und seine blaue Farbe verwandelte sich allmählich in sattes Grün. Wuchtig und impossant erhob sich dieses Urgebirge aus der Landschaft des Egerer Beckens. Teschau, am Fuße des gleichnamigen Berges, ist bald erreicht. Seine kleinen Häuser sind weit über die Berglehne hinauf verstreut. Das letzte Haus am Waldrande liegt wie eine beherrschende Burg hoch über der Landschaft. Der Blick schweift rundum vom Tillenberg über den Doppelgipfel der Kösseine hinüber zum Schönberg und weiter zu den ersten Bergen des Erzgebirges. Dazwischen, im Kessel, konnte man die Egerstadt erkennen. Ich folgte einem Weg, der durch Nadelwald aufwärts bis zur Höhe führte. Am jenseitigen Waldrande breitete sich dann vor mir die Hochebene von Schönficht aus, die sich bis Perlsberg hinaufzog.
Da waren noch viele andere Anmarschwege. Ein sehr hübscher war folgender: Von Eger über Schöba nach Unterlindau, dann weiter über Lindenhau-Unterlosau-Oberlosau-Kondradsgrün. Von diesem herrlich gelegenen, sauberen Egerländer Dorf hatte man zwei Möglichkeiten: entweder über Markusgrün ins Kneipelbachtal oder über den Lehnhof-Schwarzenteich-Amonsgrün und auf der Waldstraße hinauf nach Perlsberg.
Eines der ärmsten, zugleich aber auch eines der anmutigsten Dörfer des westlichen Kaiserwaldes war Markusgrün. Wenn man von Miltigau .herüberkam, roch man von weitem schon den guten, harzigen Geruch des Holzfeuers, denn in den Häusern heizte man einzig und allein mit Holz. Von diesem Dorfe aus führte ein schöner Weg, fast eine Straße, zur Kneipelbachkapelle. Die alte Kapelle, die ich als Bub noch kannte und gut in Erinnerung behalten habe, war sehr schön und ehrwürdig, Sie brannte ab und an ihrer Stelle baute man eine neue Kapelle. Sicher war die neue Kapelle auch sehr schön und vor allem sehr sauber. Aber ich mochte sie nicht und ging immer daran vorbei, ohne einzutreten, was ich dem alten Kirchlein nie angetan hätte.
Unweit der Kapelle, auf einer kleinen Anhöhe, lag das alte, bescheidene Wirtshaus, wo ich oft an einem Tisch im Garten saß und ein einfaches Mahl zu mir nahm. Später baute man in diese Gegend ein Haus, welches man „Kneipelbachhotel“ nannte, aber ich hatte immer den Eindruck, daß es mit dem schönen, klaren Kneipelbach recht wenig zu tun hatte und gar nicht recht in diese stille, schlichte Gegend paßte.
Etwa eine halbe Stunde bachaufwärts von der Kapelle entfernt hätte ein Köhler, zwischen Weg und Bach, seinen Meiler brennen. Zuweilen brannten auch zwei. Daneben hatte er seine Köhlerhütte eine zeltartige Behausung aus ästen, mit Brettern und Rasen abgedeckt, drinnen ein Strohlager. Oft und gerne unterhielt ich mich mit dem rußigen Menschen und ließ mir sein uraltes Handwerk erklären. Während er mir freundlich Auskunft gab, warf er hin und wieder eine Schaufel Erde auf den Meiler, eine undichte Stelle abdeckend. So ein Meiler brannte einige Tage, bis der Verkohlungsprozeß beendet war. Der Köhler mußte Tag und Nacht darauf achten, daß der Meiler nicht zuviel Luft bekam, weil das Holz sonst nicht verkohlen, sondern verbrennen würde. Einen Kohlenmeiler kunstgerecht aufbauen, abdecken, in Brand setzen und hüten, das war schon eine Arbeit, die gelernt sein wollte.
In späteren Jahren, als der Meiler längst nicht mehr rauchte, kam ich oft noch an diesem Platze vorbei. Die kreisrunden, verbrannten Stellen waren noch gut zu erkennen und der Kneipelbach rauschte daneben sein ewig gleiches Lied.
Verfolgte man den Weg entlang des Kneipelbaches weiter hinauf, so gelangte man nach einer guten halben Stunde zu einer Stelle, an der sich der Talboden verbreitete, die Wälder traten zu beiden Seiten zurück und ließen eine Lichtung frei. Auf diesem freien, geschützten Platze sah man zwei oder drei einsame Häuser. Man nannte diese Einöde die Grundhäuser. Von hier aus konnte man entweder nordwärts auf den Steinknock hinauf oder westwärts weiter nach Perlsberg oder Schönficht.
Der Name Perlsberg, das Monte Perlo der Skifahrer, erweckt wohl in vielen von uns schöne und lustige Erinnerungen. Seine einzigartige, geschützte Lage auf der Hochebene des Kaiserwaldes, inmitten eines gut ausgebauten Systems von Forststraßen und Wegen, machte dieses ärmliche Waldarbeiterdorf zu einem Egerer Wintersportplatz und hob es weit über die anderen Kaiserwalddörfer Schönficht, Hammer, Schönbrunn, Rockendorf usw. Die beiden Wirtshäuser „Zur Wolfsschlucht“ (Hammerschmidt) und „Kaiserwald“ (Hoffmann) bemühten sich redlich, den immer größer werdenden Strom von Wintersportlern zu bewirten und z. T. zu beherbergen. Ich erinnere mich noch gut an die Anfänge der Perlsberger Zeit, als man beim Hammerschmidt für 4 Kronen ein Schnitzel bekam, das nicht nur ganz den Teller bedeckte, sondern noch ein Stück darüber hinausragte. Später wurden die Schnitzel etwas kleiner und der Preis etwas höher. Auch hier, in diesem versteckten Winkel, regelten also Angebot und Nachfrage den Preis. Aber der alte Hammerschmidt, der seine „Schöbaner Pfeife“ auch beim Servieren nicht aus dem Munde tat, blieb immer der gleiche. „Sakra, döi Suppm is owa hoaß!“ sprach er, stellte den vollen Teller vorsichtig auf den Tisch und zog geschwind den Daumen aus der heißen Suppe.
Im Sommer war Perlsberg ein ruhiger Ort. Zumeist kam ich um die Mittagszait dort an, ließ mir beim Hammerschmidt ein Schnitzel braten und setzte meine Wanderung fort. Unmittelbar hinter der Wolfsschlucht lief ein Weg in den Wald hinein, der hinunter nach Amonsgrün führte. Ein links abzweigender Steig führte mich hinauf auf den Judenhau. Da stand ich nun am Gipfel und schaute in die Ferne. Die feierliche Stille paßte gut zu dem Ernst der sich vor meinen Augen ausbreitenden Landschaft. Dunkle Wälder, vor mir, dunkle Waldberge am Horizont. Wie ein grün und braun gefleckter Teppich lag das Egerland unter mir, dazwischen als dunkle Tupfen die eingestreuten Nadelwälder. Dem Auge eines Zyklopen gleich blinkte der Schwarze Teich zu mir herauf. Unmittelbar unter mir schlängelte sich der Richardsweg hinunter ins Tal.
>Auf schönen, gepflegten Waldstraßen konnte man von Perlsberg zur Glatzen wandern. Ein Besuch, des Glatzberges lohnt sich. Wenn man den am Gipfel errichteten Holzturm erstieg, genoß man die prächtige Aussicht nach allen Seiten. Die Gaststätte auf der Glatzen besuchten wir hauptsächlich im Winter, im Sommer war es uns hier ein bißchen zu vornehm und zu teuer. Was sollten wir auch mit unseren Rucksäcken inmitten eines eleganten, internationalen Kurpublikums? Desto schöner aber fanden wir die gemütliche, geschmackvoll eingerichtete Wirtsstube im Winter, wo wir freundlich aufgenommen und mit einem herrlichen Kaffee bewirtet wurden.
Das Glatzfilz war eine Sehenswürdigkeit für sich. Wer die Steiglein kannte, konnte genußreiche, einsame Stunden inmitten einer unberührten Natur erleben. Von der Glatzen aus boten sich sowohl im Sommer, als auch im Winter eine ganze Reihe reizvoller Wanderwege: die durch dichten Hochwald führende Straße nach Marienbad, dann die Straße nach Königswart und schließlich die an den Teichen vorbeiführende Straße nach Sangerberg—Lauterbach, von der rechts ein schöner Spazierweg zum Wolfsstein abzweigte. Von dort aus konnte man bequem auf gepflegten Wegen nach Marienbad gelangen. Eine oft und gerne gemachte Wanderung führte mich von Königswart aus auf der alten Straße nach Perlsberg, von dort weiter über Schönficht nach Schönbrunn, und hinunter bis nach Königsberg. Dabei benutzte ich durchwegs kleine Bezirksstraßen, die damals von Autos so gut wie überhaupt nicht befahren worden sind. Heutzutage kann man sich nur unter Lebensgefahr auf einer Landstraße bewegen.
Steigt man hinter Königswart die alte Straße nach Perlsberg hinauf, so erblickt man zur rechten Hand auf einer Berglehne, kaum die Waldbäume überragend, die spärlichen Reste einer Burg. Ein von der alten, steilen Straße abzweigender Weg leitete mich, so oft ich Zeit dazu hatte, hinüber zur Ruine. Außer ein paar alten, brüchigen Mauern, einem Graben und Spuren einer ehemaligen Brücke war nichts zu sehen. Ueber die Geschichte dieser Burg erfuhr ich nie Genaueres, vielleicht habe ich auch nie die richtigen Leute gefragt. Wozu auch? Der Platz war mir lieb, ob nun Hinz oder Kunz hier gehaust hatte. Die terassenartige Lichtung, auf der die Ruinen standen, war rings vom Hochwald umgeben. Es herrschte eine wohltuende Ruhe. Das schönste aber war die prächtige Aussicht auf das Egerland, um die ich die alten Ritter beneidet habe. Man fühlte sich erhaben über all dem kleinlichen Gezänke und dem wichtigen Getue der Leutchen dort drunten.
Ein Haus an dieser Stelle zu besitzen, erschien mir damals als der Gipfel der Glückseligkeit. Ob heuzutage noch jemand dort hinauf steigt und hinunterblickt auf unser altes, herrliches Egerland? Ob es sich sehr verändert hat? Die Berge und Täler, die Flüsse und Bäche und der Himmel mit den Wolken, sie sind dieselben geblieben und die Straßen und Wege sehen von oben immer hell aus, ob sie nun schlecht oder gepflegt sind. Mag sein, daß aus den roten Tupfen der Dächer dieses oder jenes herausfehlt, man wird es nicht merken. Dort droben fühlt man sich erhaben über dem wichtigen Getue der Leute, Zeiten kommen, Zeiten vergehen, die alte Burgruine im Kaiserwald schaut gleichmütig darüber hinweg.